„Was wir brauchen, sind ein paar verrückte Leute; seht euch an, wohin uns die Normalen gebracht haben.“

Im Zeitalter der real existierenden Tyrannei der Normalität kommen der Gesellschaft die lebendigen Farben abhanden. Die lebendigen Farben der Individualität eines jeden Menschen, der einzigartigen Makel und der heiklen und bizarren, aber durchaus belangvollen Themen. Alles, was nicht der von der Gesellschaft vorgegebenen Norm entspricht, wird in der Öffentlichkeit gar nicht erst thematisiert. Man versucht stets den Schein zu wahren und sich zu fragen, was wohl die anderen denken könnten. Der Zwang nach Normalität hat uns dazu gebracht, den eigentlich so farbenfrohen Himmel in unzählbaren Nuancen in einen grauen monotonen und langweiligen Nebelschwaden zu transformieren. Seinen wahren Gemütszustand ohne Scham, Rücksicht und Hemmungen couragiert der Öffentlichkeit zu präsentieren, das gelingt nur denen, die mit dem Begriff „normal“ nicht viel anfangen können, jene, die wir als verrückt oder gar wahnsinnig bezeichnen.
Das Theaterstück „Café Wahnsinn“, welches am Freitag, den 17.05.2019 um 18 Uhr und am Samstag, den 18.05.2019 um 16 Uhr von der AG „Modernes Theater“ in der Aula des Gymnasiums Kleine Burg in Braunschweig aufgeführt wurde, beweist nicht nur durch den Titel, sondern vor allem durch das ungewöhnliche „Bühnenkonzept“ und das dadurch entstehende unmittelbare Agieren der fünf Schauspielerinnen mit dem Publikum sowie der ungewöhnlichen Thematik, dass das Übergehen von Normalität neue Türen zu aufregenden und amüsanten Dimensionen öffnen kann. Das Stück spielt sich in einem Café eines mehrstöckigen Gebäudes ab, in dem sich auch eine Psychiatrie befindet. So ist es nicht unüblich, als normaler Gast beim Speisen im Café gelegentlich auf die Patienten der Psychiatrie zu stoßen, die von den fünf Schauspielerinnen verkörpert werden und den anderen Cafégästen, in diesem Fall dem Publikum, von ihren einzelnen Schicksalen in Form von Monologen auf eine überdrehte, laute und aufdringliche Art und Weise erzählen und dem Publikum somit einen Einblick in ihre wirre Gefühlswelt geben. Insgesamt werden zehn verschiedene Einzelauftritte von unterschiedlichen Rollen, die durch kurze Musiksequenzen der Liveband nacheinander eingeleitet werden, vorgeführt. Parallel zum Geschehen werden dem Publikum Getränke und Gebäck serviert, womit der Eindruck, sich in einem Café zu befinden, nochmals verstärkt wird. Die verrückten Frauen aus der Psychiatrie gesellen sich zu den Cafégästen an die Tische. So auch Sofie, die das Stück mit ihrem Auftritt „Sofie geht in den Keller“ eröffnet. Sie ist eine junge Frau, die durch ihre schrille Bekleidung sehr jugendlich und ausgefallen wirkt, da sie auffällige grelle Accessoires wie zum Beispiel neon-orange Netzhandschuhe trägt, welche einen Kontrast zum restlichen dunklen Outfit darstellen. Sie bildet sich ein, in einem Keller gefangen zu sein und fühlt sich dementsprechend eingeengt. Ihre panische und hysterische Reaktion lässt eine Klaustrophobie vermuten. Außerdem ist sie sehr wechselhaft, denn in einem Moment rennt sie panisch, hysterisch und äußerst aufgeregt durch das gesamte Café, schreit nach Hilfe, möchte aus dem „Keller“ endlich raus und bedrängt die anderen Gäste mit ihrer Panikattacke, doch im nächsten Moment wird sie ganz still, benommen und redet ganz wirres und unzusammenhängendes Zeug. Es wird deutlich, dass Sofie vermutlich an einer schizophrenen Psychose leidet, was die Schauspielerin der Rolle sehr authentisch verkörpert. Zudem bindet die Schauspielerin das Publikum aktiv mit ins Geschehen ein, indem sie einzelne Gäste anspricht, sie zu Handlungen auffordert und dabei den gesamten Raum nutzt, wobei sie sich von der verdutzten und perplexen Reaktion der Cafégäste nicht beirren lässt, sondern ihre Rolle gekonnt durchzieht, was sie vor allem mit ihrer durchgehend paranoiden und vehementen Mimik und Gestik demonstriert.
Der darauffolgende Auftritt „Agnes sitzt auf dem Balkon“ bildet das komplette Gegenteil von Sofie. Agnes ist eine sehr fein gekleidete Dame, die sich äußerst gehoben und poetisch ausdrückt und einen fast schon opportunistischen Eindruck macht. Sie agiert auch sehr oft mit dem Publikum und flirtet sogar mit einigen männlichen Cafégästen. Im Vergleich zur panischen Sofie wirkt Agnes viel erwachsener und reifer und ist sehr ruhig und bestimmt. Diese Gegensätzlichkeit lässt schon eine Vorahnung auf die restlichen Einzelauftritte geben. Alle zehn Einzelauftritte sind unterschiedlich und erzählen ein anderes Schicksal, dabei gibt es keinen wirklichen Handlungsstrang, denn es geht bei den meisten Rollen nicht um das, was wortwörtlich gesprochen wird, sondern vielmehr um das große Ganze. Darum, dass jede Frau ein Schicksal verkörpert, dass in unserer realen Gesellschaft öfter vorkommt, als man zu wissen vermag. Jede Frau führt einen inneren Kampf und steht im Konflikt mit sich selber, ausgelöst durch verschiedene Faktoren, z.B. der komplizierten Vergangenheit, eine unglückliche Ehe oder Verzweiflung über das fehlende Kind. Doch egal wie skandalös, schockierend, traurig, dramatisch oder amüsant dieser Konflikt ist, er wird aus Scham oder vor Hemmungen nicht verschwiegen, sondern schonungslos und rigoros offenbart. Dem Schmerz dieser Frauen wird endlich eine Stimme gegeben, was in der heutigen Welt keine Selbstverständlichkeit ist. Bei allen Frauen handelt es sich um starke und selbstbestimmte Persönlichkeiten, die keine Angst haben ihre Stimmen zu erheben und sich mitzuteilen. Sie streben einfach nur auf ihre individuelle und durch ihren Wahnsinn gesteuerte Art und Weise nach Glück und Erfüllung im Leben, aber bleiben leider unverstanden, da die Gesellschaft es nicht gewohnt ist, mit solch einer bizarren Direktheit konfrontiert zu werden. Dabei sind alle fünf talentierten Schauspielerinnen in insgesamt zehn Rollen geschlüpft, die von Ausschnitten aus anderen Theaterstücken inspiriert waren. Sie haben die Leiden dieser verschiedenen Frauen so wahnsinnig authentisch und realistisch gespielt, dass man als Zuschauer das innere Gefühlschaos der Rollen unmittelbar nachempfinden konnte. Auch durch die realistische Szenerie mit bunt gedeckten Tischen, die im gesamten Raum verteilt standen und mit Namensschild und einem Ablaufplan in Form einer Menükarte ausgestattet waren, sowie der Livemusik, die sich der jeweiligen Stimmung im Café angepasst hat, und dem Service, der dem Publikum an den Tischen Getränke und Gebäck serviert hat, befindet man sich wortwörtlich mitten im Geschehen. Es gibt keine separate Bühne und Zuschauernische, der gesamte Raum samt Publikum wird genutzt.

Diese Aufführung war weit entfernt von der Normalität und genau das hat diesem Stück einen gewissen Zauber verliehen, der trotz lustiger und amüsanter Momente sehr berührend und inspirierend war. Es ist erstaunlich dass fünf Mädchen in der Lage sind, ein so großes Publikum in ihren Bann zu ziehen. Für volle 90 Minuten befand man sich nicht mehr in der Aula des Gymnasiums Kleine Burg, sondern war Gast im „Café Wahnsinn“ und bekam die volle Wucht an überdrehtem Wahnsinn mit unterschwelligen tiefen Botschaften zu spüren. Die Theater-AG unter der Leitung von Herrn Weber-Kuligk hat es geschafft, das Publikum in eine neue Welt zu entführen, die einen auch noch Stunden nach dem Stück zum Nachdenken angeregt hat.

Eine Rezension von Parmida Darestani (Kl. 11b) zum Theaterstück „Café Wahnsinn“

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